Der Vorteil von Praxis vor Theorie

Direkt nach meinem Abitur bin ich mit meinem VWL-Studium angefangen. Das Uni-Studium vermittelt sehr viel Theorie, die sich in der Praxis nur schwer anwenden lässt, jedoch auch einiges Wissen über konkrete Abläufe, Rechnungen und IT-Systeme in Unternehmen.

Heute wird mir klar, wie sehr praktische Erfahrungen bei der Aufnahme von praktischem Lernstoff helfen.

Das Fach nannte sich Wirtschaftsinformatik. Didaktisch mindestens fragwürdig aufbereitet, hangelte sich das Lehrpersonal durch Millionen von Folien, die den Aufbau von IT-Netzwerken  in Unternehmen, managementorientierte IT-Software oder die Einbindung der IT in die Unternehmensorganisation beinhalteten.

Es war zum kotzen. Die Vorlesungen waren nicht auszuhalten und das Lernen für die Klausur war Bulimie-Lernen in Reinform. Ein Kumpel von mir, damals einige Semester weiter, hatte zwei Jahre danach nur noch die Schlagworte “Baum- gerichtet – fest- Arbeitsplätze” behalten, die die IT-Organisation in einer hierarchischen, dezentralen Unternehmensorganisation beschreiben. Es ging um ERP-Systeme, um Data-Mining, aber auch um so profane Dinge wie IT-Eingabesysteme (Tastatur, Maus) oder Ausgabegeräte (Monitor).

Durch praktische Erfahrungen entsteht echtes Wissen

Eine Bekannte von mir hatte damals schon einige Zeit in einem Unternehmen gearbeitet und als wir uns über die Inhalte der Wirtschaftsinformatik unterhielten, sagte sie überraschend, sie finde die Inhalte zum Teil ganz interessant, weil sie etliche Dinge schon aus der Praxis kenne. Und das ist eine wichtige Erkenntnis. Wenn ich praktische Anknüpfungspunkte zu Lernstoff habe, dann kann ich mein praktisches Wissen mit dem neu gelernte theoretischen verbinden und es entsteht echtes Wissen, in seinen Kontext eingebettete Erkenntnisse. Dann habe ich eine ganz andere Lernmotivation.

Für mich und die meisten meiner Mitstudenten jedoch war das Fach die reinste Qual. Wir konnten kein Wissen erwerben, wir lernten nur unzählige, nicht im Zusammenhang stehende Informationsschnipsel auswendig. Sehr sehr unbefriedigend.

Heute, nach einiger praktischer Erfahrung, weiß ich manche Konzepte von damals zu schätzen. Der Begriff ECM (Was ist ECM?) beschreibt unternehmensweite IT-Anwendungen, mit denen Mitarbeiter Informationen mit der gesamten Belegschaft des Unternehmens teilen können. So können abteilungsübergreifend Inhalte ausgetauscht werden.

Der Vorteil von praktischer Erfahrung vor oder während der Vermittlung von theoretischem Wissen liegt also auf der Hand. Deshalb scheinen mir duale Studiengänge auch sehr sinnvoll, denn das relativ hohe Arbeitspensum kann durch eine Verzahnung von Hochschul- und Unternehmenswissen und einer damit einhergehenden höheren Motivation bewältigt werden.

Schädliche Versteifung auf Materielles im Wirtschaftsstudium

Praktische Erfahrungen habe ich also während meines Studiums vermisst. Doch noch viel wichtiger ist die magelnde Selbstreflektion des Wirtschaftsstudiengangs in Giessen. Die Inhalte eines jeden Fachs bauen darauf auf, dass der Nutzen eines jeden Menschen durch mehr materielle Güter maximiert wird. Denn Materielles ist in Geld bezifferbar, ein gutes Betriebsklima jedoch nicht ohne weiteres.

Da muss man sich dann beispielsweise von einer Mathe-Dozentin anhören, dass es ungerecht sei, dass der kleine Teil der Großverdiener 50 Prozent der Steuern zahlt. Dass diese Großverdiener auch nach Steuern noch viel mehr als der Durchschnittsverdiener haben, wird nicht als ungerecht empfunden. Der Marktmechanismus sorgt ja angeblich allzeit für gerechte Ergebnisse.

Ein Lehrstuhl für Unternehmensethik wäre interessant gewesen, um einen Gegenpol zur allgegenwärtigen Indoktrination des Materiellen zu schaffen. Wer sich näher für dieses Thema interessiert, dem sei mein Beitrag zum Thema Warum ein Wirtschaftsstudium zum egoistischen Materalismus erzieht empfohlen.

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