Nehmen wir einmal an, dass Leistung DAS anzusetzende Kriterium ist, wenn es um Geld und gesellschaftliche Anerkennung geht.
Auch über die Bedeutung von Leistung kann man diskutieren. Doch nehmen wir einmal Leistung als wesentlichen Maßstab für Gehalt und Wertschätzung. Ich behaupte.
Es kann eine größere Leistung sein, wenn eine Mutter alleinerziehend ihrem Kind all das mitgibt, das es auf dieser Welt braucht als ein Weltrekord von Usain Bolt.
Es kann eine größere Leistung sein, wenn ein Drogensüchtiger nach langer Suchtkarriere mehrere Jahre nicht rückfällig wird als wenn Lance Armstrong sieben Mal die Tour de France gewinnt.
Der Reihe nach. Zunächst stellt sich die Frage, wie ich Leistung definiere. Da gibt es zwei Möglichkeiten. Der Anschaulichkeit halber nehmen wir den Sportbereich:
A) Ich beurteile die Menschen nach der messbaren Leistung. 100-Meter-Läufer beispielsweise vergleiche ich nach ihrer Zeit. Einem Usain Bolt gebührt das meiste Geld und Anerkennung. Ein Hoch auf den König.
B) Ich beurteile die Menschen nach dem, was sie aus ihren Möglichkeiten machen. Unter den Sprintern über 100 Meter gibt es Leute, die hatten als Kind einen schlimmen Autounfall oder deren Eltern waren Alkoholiker oder sonst ein Handicap. Dann ist die persönliche Bestleistung von 11,0 Sekunden eines dieser gehandicapten Sportler eventuell mit genau derselben Anstrengung und Disziplin entstanden wie der Weltrekord von Bolt.
Ich favorisiere in jedem Fall die Lösung B.
Große Leistungen finden nicht nur auf der großen Bühne statt
Ich wehre mich dagegen, dass ein Usain Bolt die ganz große gesellschaftliche Anerkennung bekommt, die 95 jährige Frau, die immer noch jeden Tag zu Fuß in den Einkaufsladen um die Ecke geht, jedoch überhaupt keine.
Ich wehre mich dagegen, dass ein Lance Armstrong nach sieben Siegen bei der Tour de France als übermenschliches Wesen verehrt wird, während der Obdachlose, der sich seit 10 Jahren Tag für Tag auf der Straße durchs Leben kämpft, von den meisten nur müde belächelt wird. Mal davon abgesehen, dass Lance Armstrong von weiten Teilen der Bevölkerung mittlerweile genauso belächelt wird wie eben jener Obdachlose, weil Armstrong nach Bekanntwerden langjährigen Dopings als der größte Betrüger des Sports gehandelt wird. Das ist genauso falsch, es verkennt die Umstände, die extreme Verbreitung des Doping im Radsport der 90er.
Es ist nicht korrekt, wenn ein Lionel Messi oder ein Christiano Ronaldo von vielen, vielen Fußballfans als Götter angehimmelt werden, während die alleinerziehende Mutter, die neben der Erziehung ihrer Tochter noch halbtags in einem Unternehmen arbeitet und abends meist halbtot ins Bett fällt, kaum Beachtung findet.
Die vielen Vergleiche aus der Welt des Sports haben es mir angetan. Früher waren das meine großen Helden, heute versuche ich, meine Wertschätzung vor allem auf die Leute zu konzentrieren, die schwerere Startbedingungen hatten als Superstars. Menschen, die aus ihren Möglichkeiten sehr viel gemacht haben. Ein lernbehinderter junger Mann, der mit 48 Lesen und Schreiben lernt. Die Welt ist voll von Personen, die trotz ganz harten Bedingungen viel aus sich gemacht haben.
Was nicht bedeuten soll, dass die Leistung von Menschen, die immer auf der Sonnenseite des Lebens gestanden haben per se weniger Wert ist. Es geht um das Verhältnis der Anerkennung und die ist, gerade durch die Medien, sehr ungleich verteilt.
Kein Mensch besitzt etwas, das ohne Ursache und Wirkung entstanden ist
Das Problem von Lösung B, der individuellen Leistungsmessung, liegt darin, dass Leistung nur noch ganz schwer zu erfassen ist. Kaum noch vergleichbar ist. Und was ist überhaupt das Kriterium, das die individuelle Leistung ausmacht? Gehört das eigene Talent dazu oder doch nur der eigene Wille und die eigene Disziplin?
Der Buddhismus liefert ähnliche Weisheiten, die sogar eine Relativierung der Wichtigkeit von Leistung nahelegen. Einer der Grundsätze bezieht sich auf die Leere der Dinge. Kein Mensch besitzt demnach eine Eigenschaft, die ihm inhärent ist. Das bedeutet, das jede Eigenschaft eines Menschen abhängig entstanden ist. Da sind die eigenen Gene, die sich aus Mutter und Vater zusammensetzen. Da sind die Umweltbedingungen, die uns formen – es gibt keine Eigenschaft, die nicht durch Ursache und Wirkung entstanden ist. Und wenn wir dies als richtig anerkennen, dass alles, was wir sind, durch Ursache und Wirkung entsteht, dann stellt sich erst recht die Frage, was unsere Leistung ausmacht. Dann sind wir auch bei der Frage nach dem freien Willen.
Doch es wäre falsch, sich als Mensch zu sagen, dass durch unsere Gene und die Umwelt alles festgelegt ist, das wir im Leben leisten werden. Dann könnten wir es uns den ganzen Tag vor dem Fernseher gemütlich machen.
Um Leistungen richtig einzuordnen, muss man hinter die Fassade der Menschen schauen
Wir müssen uns im Gegenteil immer wieder in Erinnerung rufen, dass wir versuchen müssen, die Möglichkeiten, die uns das Leben bietet, zu nutzen. Letztlich spielt jeder das Spiel mit sich selbst. Wie kann ich mich selbst verwirklichen? Sich mit anderen zu vergleichen macht keinen Sinn, weil die Bedingungen für zwei Menschen immer unterschiedlich sind.
Um die Hauptbotschaft noch einmal kurz zusammenzufassen. Schaut euch um in eurem Bekanntenkreis. Blickt hinter die Fassade der Menschen. Was die eine Person aufgrund intaktem Elternhaus, einem klugen Kopf und einer robusten Persönlichkeit ganz einfach hinbekommt, das müssen sich andere hart erkämpfen. Und diese Personen bekommen oft sehr wenig Anerkennung.
Das Thema hat noch weitere Facetten. Man könnte bei der Bewertung einer Leistung miteinbeziehen, ob das Geleistete positive Auswirkungen auf die Mitmenschen hat oder diesen zumindest nicht schadet. Das wäre dann eventuell ein Thema für einen weiteren Beitrag.
Was meint ihr zu dem Thema? Eine Diskussion wäre sicherlich spannend.