Eine Einordnung der Trainerdiskussion um Joachim Löw

Die Europameisterschaft ist seit gestern Geschichte. Für viele Deutschland-Fans ist das Turnier vermutlich jedoch schon seit vergangenem Donnerstag gelaufen, als Deutschland Italien mit 1-2 unterlag. In der Kritik: Bundestrainer Löw, dem vor dem Italien-Spiel noch ein goldendes Händchen bei der Personalauswahl bescheinigt wurde.

In einem meiner ersten Posts habe ich dargelegt, dass Trainer im Fußballgeschäft aus meiner Sicht zu schnell entlassen werden und habe einige Studien genannt, die diese Sichtweise stützen. Ich verstehe nicht, dass das Fußballgeschäft derart anders sein soll als die klassische Wirtschaft, in der Führungskräfte für deutlich längere Zeit eine Stelle ausüben können. Dabei bezog sich meine Analyse jedoch auf den Vereinsfußball und nicht auf Nationalmannschaften.

Einiges spricht jedoch dafür, dass Trainerdiskussionen bei Nationalmannschaften einerseits noch unsachlicher und emotionaler geführt werden und andererseits auch Entscheidungen noch irrationaler getroffen werden. Ein Bild-,,Journalist” fragte Joachim Löw, ob er nicht zurücktreten wolle. Die Welt am Sonntag wirft Löw vor, er verliere vor lauter Talenten den Überblick und bekomme keine Stabilität in die Mannschaft. Zudem habe er mit Michael Ballack den einzigen Führungsspieler abserviert, halte vermutlich keine motivierenden Kabinenansprachen und sein Nägelkauen auf der Bank könne auf sensible Spieler demotivierend wirken. Auch Spiegel-Online führt eine Führungsspieler-Debatte aufgrund des ,,fehlenden Aufbäumens” im Spiel gegen Italien.

Auch wenn der deutsche Bundestrainer von den meisten anderen und seriösen Medien nicht in Frage gestellt wird, sondern nur seine Aufstellung im Spiel gegen Italien, verdeutlicht dieses in Teilen vernichtende Medien-Echo doch die oben beschriebene Problematik, dass Nationaltrainer oft noch weniger Zeit bekommen als Vereinstrainer.

Es wird von Teilen der Medien nun vergessen, dass Deutschland eine starke EM-Qualifikation gespielt hat mit der maximalen Punktausbeute und auch in der EM-Vorrunde keinen Punkt abgegeben hat. Wenn man sich klarmacht, dass fast die gesamte Kritik am Bundestrainer daher rührt, dass Deutschland ein Spiel, das nur 90 Minuten dauert, verloren hat, dann finde ich es Wahnsinn, daraus eine Führungsspieler-Debatte, Trainerdiskussion oder eine andere Grundsatzdebatte abzuleiten.

Welches Medium hat denn bitte vor dem Italien-Spiel eine Führungsspieler-Diskussion geführt oder gar den zu diesem Zeitpunkt perfekten Trainer in Frage gestellt, der bei jeder seiner Personalentscheidungen ein goldenes Händchen bewiesen haben soll und ein ,,Hexer” sei? Diese vernichtende Kritik an Löw ist aus meiner Sicht an Scheinheiligkeit nicht zu überbieten.

90 Minuten entscheiden über die Bewertung der Arbeit des Trainers

Auch wenn man sich das Italien-Spiel in Erinnerung ruft: Italien nutzt, nach zwei groben Abwehrfehlern seine ersten beiden Chancen und Deutschland läuft einem 0:2 hinterher. Das ist sehr schwierig und Deutschland hat einige Chancen rausgespielt. Natürlich waren einige Spieler, wie Schweinsteiger nicht in Form und auch die Aufstellung von Kroos, Podolski und Gomez mag nicht glücklich gewesen sein, aber letztlich gehört auch Glück dazu, in einem einzigen KO-Spiel gegen einen guten Gegner weiterzukommen und das hatte Deutschland an diesem Tag nicht. Das Spiel wäre ganz anders gelaufen, wenn Hummels zu Beginn des Spiels gleich die erste Chance nutzt. Dann würde heute vermutlich keiner über Führungsspieler und den Nationaltrainer und dessen ,,falsche Personalentscheidungen ” diskutieren.

EM- und WM-Turniere sind nun einmal so gestaltet, dass man eine gehörige Portion Glück braucht um das Turnier zu gewinnen. In der Champions-League etwa gibt es in der KO-Phase ein Hin- und ein Rückspiel, was dazu führt, dass sich mit höherer Wahrscheinlichkeit die bessere Mannschaft durchsetzt, aber eben auch nicht immer (Beispiel: Barcelona gegen Chelsea im CL-Halbfinale). Haben denn die Spanier bei dieser EM nur überzeugt? Ich denke an das Spiel gegen Kroatien, als Rakitic die große Kopfballchance hatte und Kroatien generell das Spiel hätte gewinnen können. Oder man denke an das Halbfinale, als Spanien erst im Elfmeterschießen gegen Portugal gewann. Jetzt nach dem überzeugenden Sieg im Finale heißt es jedoch: Spanien ist einfach nur überragend und verdienter Europameister!

Der Job eines Nationaltrainers ist mit noch mehr Ungerechtigkeit behaftet als der eines Vereinstrainers, weil Nationaltrainer a) ihr Schicksal von noch weniger Spielen und damit noch mehr vom Zufall abhängt und b)einem noch höheren Erwartungsdruck ausgesetzt sind. Der Einfluß des Zufalls auf die Ergebnisse wird von den Medien nicht ausreichend gewürdigt, denn mit Führungsspielerdiskussionen etwa läßt sich eben ein größerer Leserkreis generieren.Der Erwartungsdruck ist höher, da das Publikumsinteresse bei EM-und WM-Turnieren auf die Nationalmannschaft gebündelt wird.

Mein Fazit: Der Bundestrainer hat eine sehr starke Bilanz, wenn man die Spiele der letzten vier Jahre als Ganzes betrachtet. Wenn man den heutigen Fußball mit dem Rumpelfußball von 1998-2002 vergleicht, dann hat er die Mannschaft deutlich nach vorne gebracht.

 

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1 Gedanke zu „Eine Einordnung der Trainerdiskussion um Joachim Löw“

  1. Die Diskussion um Joachim Löw, die seit dem Italien-Spiel losgetreten wurde, zeigt merkwürdige Züge. Jedes Mal, wenn eine deutsche Nationalelf keinen Titel gewinnt, geht die Diskussion um die Führungsspieler wieder los. Da stellt sich natürlich die Frage: Was macht genau einen Führungsspieler aus? Muss ein Spieler dafür provokante Interviews geben, Gegner schon im Vorfeld mit Sprüchen provozieren, im Spiel den Gegenspieler umgrätschen, um eine gelbe Karte zu kassieren?

    Als Führungsspieler wird oft der „aggressive Leader“ Mark van Bommel erwähnt. Da frage ich: Wie viele Titel in der Champions League und in der niederländischen Nationalelf haben die Teams mit van Bommel erreicht? Auch ein Oliver Kahn hat die Nationalelf nicht zu Titeln geführt. Allerdings hat der FC Bayern München mit Kahn die Champions League gewonnen. Gegen Valencia siegten die Bayern damals im Elfmeterschießen, indem Kahn einen Ball mit den Fingerspitzen an die Latte lenkte. Bastian Schweinsteiger schoss im letzten Champions League Finale den Ball an den Pfosten und Bayern verlor. Das Fazit lautet: Kahn ist ein Führungsspieler, “Schweini” ist es nicht. So einfach ist die Welt! Auch mit vermeintlichen Führungsspielern wie van Bommel, Arjen Robben, Oliver Kahn und anderen sind keine Titel garantiert.

    Der Einwand, mit Ballack hätte man sicherlich gegen Italien gewonnen, ist noch lächerlicher. Erstens stecken die Medien Ballack immer wieder in die Schublade des ewigen Zweiten, und genau dieser soll Deutschland jetzt zum Titel führen? Zweitens ist Ballack fast 36 Jahre alt und war ein Jahr lang Bankdrücker bei Bayer Leverkusen. Wie soll ein Michael Ballack in dieser Situation der Mannschaft noch helfen? Es ist einfach der krampfhafte Versuch, eine vermeintliche Führungsspieler-Debatte zu entfachen und eindimensional über das DFB-Aus zu berichten. Zudem besteht eine Fußballmannschaft aus 11 Spielern. Wenn zum Beispiel der Spielmacher als Führungsperson gilt, aber hinten die Verteidiger individuelle Fehler machen, dann nützt der vermeintliche Führungsspieler auch nichts mehr.

    Aber auch Joachim Löw muss sich hinterfragen, was er besser machen muss, damit es 2014 endlich zum Titel reicht. Er hat wohl die besten Spieler seit 15 Jahren zur Verfügung, das Potential ist wirklich wahnsinnig gut. Hätten Rudi Völler oder Erich Ribbeck solche Spieler gehabt, wäre damals wohl auch deutlich attraktiver und erfolgreicher gespielt worden. Löw muss jetzt zusehen, dass die Mannschaft NOCH BESSER wird. Denn Deutschland hat mit diesem Personal eine reelle Chance auf den WM-Titel, und dafür muss jetzt alles getan werden. Außerdem haben Löw und die Mannschaft vor dem Turnier klar formuliert, dass sie den EM-Titel holen möchten. Jetzt ist der Titel nicht da, und objektiv wurde damit das Ziel verfehlt.

    Da muss sich auch Löw einmal Kritik stellen, zumal die letzten drei Turniere immer kurz vor Schluss zu Ende waren. Es stellt sich hier die Frage: Wann gelingt denn endlich der letzte Schritt? Joachim Löw und sein Trainerstab leisten wirklich sehr gute Arbeit und Forderungen nach seinem Rücktritt finde ich stark übertrieben. Aber: Die WM 2014 ist dann das vierte Turnier unter Löws Leitung. Langsam aber sicher muss endlich mal ein Titel her!! Sonst wird die vermeintliche goldene Generation um Philipp Lahm und Bastian Schweinsteiger nur durch zweite und dritte Plätze geprägt. Und irgendwann reicht es auch nicht mehr aus, wenn am Turnierende wieder gesagt wird: „Das Halbfinale erreicht zu haben, ist eine tolle Sache!“.

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